2. Oktober 2025
Eine Kurzgeschichte aus der Zukunft in mehreren Akten.
Die Gegenwart. Vor 56 Jahren landeten Menschen auf dem Mond und hatten einen Computer dabei. Es sind 45 Jahre vergangen, seit auf der Erde der Personal Computer auf den Markt kam. Erste Vorläufermodelle kann der interessierte Bürger sogar bereits seit rund 50 Jahren erwerben. Ins Internet kommt Ottonormalbürger seit ca. 32 Jahren. Smartphones gibt es seit etwa 20 Jahren, sie sind inzwischen flächendeckend im Einsatz.
Mit anderen Worten: So ziemlich jeder hat ein Smartphone mit Internet-Zugang in der Hosentasche, egal wo er sich befindet. Und in der Regel ein Notebook oder Tablet dazu. Junge Erwachsene kennen es gar nicht mehr anders.
Ein genauerer Blick auf diese Gegenwart. Wir schreiben das Jahr 2025. Wie eingangs erwähnt fast ein halbes Jahrhundert nach Erscheinen des PC.
In Deutschland ist die überwiegende Zahl der Bürgerinnen und Bürger gezwungen, nach einem Umzug für die Anmeldung an ihrem neuen Wohnort das örtliche Einwohnermeldeamt aufzusuchen.
Dazu brauchen sie eine »Wohnungsgeberbescheinigung«, die sie in Papierform ausgefüllt und unterzeichnet vom »Wohnungsgeber« der Behörde mitbringen müssen. Sie erhalten dafür nach vorangegangener ordnungsgemäßer Terminvereinbarung und pünktlichem Erscheinen einen vom Amt gestempelten und beschrifteten Papieraufkleber mit der neuen Anschrift auf ihren E-Personalausweis geklebt und - ganz wichtig - eine »Amtliche Meldebestätigung für die Anmeldung« in Papierform ausgehändigt.
Das ist Digitalisierung in Reinkultur im Land der »Technologieführerschaft«.
Wir nehmen es gleich vorweg: Etwas so alltägliches wie der zuvor erwähnte Wohnortwechsel überfordert deutsche Behörden über die simple Anmeldung hinaus komplett. Insbesondere, wenn der Umzug in ein Pflegeheim erfolgt.
Hier beginnt die Zukunft: Ein Science-Fiction-Film.
In den Hauptrollen: Die Einwohnermeldeämter und die Gebühreneinzugszentrale (GEZ).
Die Aufgabe: Zwei Behörden sollen online miteinander kommunizieren.
Anmerkung des Autors: Der Wortlaut der Aufgabenbeschreibung lässt erkennen, dass es sich im deutschen Sprachraum um eine Unmöglichkeit handelt, da es für diese Handlung noch nicht einmal Worte in Landessprache gibt. Schon die Aufgabe lässt damit den Spannungsbogen ins Unermessliche steigen, Zartbesaitete sollten aus Sorge um ihre Gesundheit an dieser Stelle aufhören zu lesen.
Das Drehbuch: Eine Anmeldung beim Einwohnermeldamt des neuen Wohnorts könnte inzwischen online erfolgen, die Authentifizierung mit E-Personalausweis und Ausweis-App. Auch die Bestätigung des Wohnungsgebers könnte komplett digital erfolgen. Das örtliche Einwohnermeldeamt könnte nach Anmeldung des neuen Wohnortes diesen an die GEZ leiten, idealerweise online über eine Koppelung der Systeme von Meldeamt und GEZ. Die GEZ könnte daraufhin den alten Wohnort abmelden und den neuen Wohnort vermerken. Nach dessen Online-Anmeldung alles Weitere ohne Zutun des Bürgers.
Alles ü-ber-haupt kein Problem. Technisch pille palle.
Das gilt auch für Besonderheiten des Ablaufes wie etwa die Angabe des vorherigen Wohnortes sowie die Bestätigung, dass es sich beim neuen Wohnort gegebenenfalles um ein Pflegeheim handelt. Der vorherige Wohnort ist zwar nicht auf der Meldebestätigung angegeben, wird aber vom Einwohnermeldeamt dennoch abgefragt, vermerkt und könnte weitergegeben werden. Und inwieweit eine Wohnanschrift die eines Pflegeheims ist, weiß die Gemeinde sehr wohl und könnte diesen Umstand der GEZ gleich mit bestätigen. Alles ebenfalls online, versteht sich.
Dass die Anmeldung nach Wohnortwechsel ohne Zutun des Bürgers zwischen den Behörden so wie im Drehbuch abgehandelt wird erträumt sich der naive Bürger dennoch vergeblich. Die Zukunft hat nach einem halben Jahrhundert PC-Nutzung und dreißig Jahren Internet zumindest in Deutschland noch immer nicht begonnen.
Die Wirklichkeit sieht wie folgt aus. Der Bürger oder die Bürgerin, vielleicht schon weit in ihren Achzigern, beginnend dement und deshalb voll pflegebedürftig, darf nach
selbst daran denken, dass ja die Rechnungen des Rundfunkbeitrages weiter an die alte Adresse gehen und das geändert werden muss.
Zwischenbemerkung: Wenn nicht in einem Pflegeheim wohnhaft machen sich solche Bürger an manchen Tagen zweimal Mittagessen, weil sie vergessen hatten, dass sie es schon gemacht haben. An anderen Tagen vergessen sie komplett das Trinken.
Dennoch sind die Behörden sich sicher, dass ausnahmslos jedem sogleich der eigene Bankauszug einfällt, wo in einer unstrukturierten Wüste aus klein gedruckten Buchstaben und Zahlen für Manche mit guten Augen irgendwo der Vermerk zu entdecken wäre:
»Aenderungen ganz bequem: www.rundfunkbeitrag.de«
Die Behörden sind sich ferner sicher, dass jeder daraufhin nicht nur flugs das Smartphone zückt und die Webseite besucht, wo sich eine Übersicht von Online-Formularen findet. Oh! Die GEZ hat es fertiggebracht, eine Erfassungsmöglichkeit der relevanten Informationen zur Abmeldung in ein Online-Formular zu fassen.
Fehl geht, wer glaubt, die so gestalte Online-Erfassung mündete in eine Verarbeitung von Amts Wegen. Man ist stattdessen frei von Zweifeln, dass sofort jeder und jede auf Anhieb versteht, selbst folgenden Prozess in Gang zu setzen.
Freilich. Bewohner können auch das Pflegeheim fragen, ob sie mal helfen können beim Drucken und Kopieren und Ausfüllen und Kuvertieren und Frankieren und Versenden. Aber wir sprechen von einem Pflegeheim. Pflege. Wie in füttern, Windeln wechseln, waschen, kämmen, anziehen, trösten. Nicht »Privatsekretariat für Bürokratie, Schreibarbeiten und altertümliche Kommunikation«.
Wir halten wieder fest: Das ist Digitalisierung in Reinkultur im Land der »Technologieführerschaft«, wo gestern die deutsche Regierung allen Ernstes ihre Absicht verkündete, als erstes Land der Welt einen Fusionsreaktor zu bauen. Ich würde sagen, das ist eine ganz neue Größenordnung von »ganz bei Null anfangen«. Da können sich voll digitalisierte Länder wie Estland mal eine Scheibe abschneiden.
Kleine Randbemerkung: Unser Land hat einen Digitalminister. Weder dessen Vorgängerinnen und Vorgänger noch andere Teile der Regierungen bis heute haben es geschafft, einen so naheliegenden, einfachen Vorgang im ganzen Land einheitlich zu digitalisieren (siehe Drehbuch weiter oben).
Hoffentlich machen die Sache mit dem Reaktor Andere.
Ich wohne gottlob (noch) nicht in einem Pflegeheim, weiß aber dennoch schon gar nicht mehr, wann es war. Ich habe jedenfalls schon vor Jahren unseren Drucker zum Elektroschrott gegeben.
Ich habe keinen Drucker.
Immer, wenn ich wieder einen Behördengang absolvieren muss und dort ganz lapidar einer Amtsperson den Satz »Ich habe keinen Drucker« sage, sieht man hinter der Fassade ihres sich langsam leerenden Blickes förmlich den Stolz zerbröseln, der sich gerade noch an die Aussage »Wir haben eine Webseite, da können Sie ganz leicht das Formular als PeDeEff downloaden und zum Ausfüllen ausdrucken« knüpfte.
Ich sage dann meist mit gezogenem Handy »sehen sie mal hier, ich habs alles auf dem Handy schon ausgefüllt, kann ich ihnen das mailen?«. Spätestens, wenn dann die Amtsperson einwendet, sie brauche aber noch den Vordruck xyz ausgefüllt und unterschrieben und ich dann erwidere »kein Problem, zeigen Sie mal her, ich scanne das kurz« und dabei abermals mit dem Handy wedele, dürfte die Erkenntnis komplett sein. Die Amtsperson und ich leben auf verschiedenen Planeten.
Willkommen in der Digitalwüste.
Bild:
Frankfurt, Oktober 2024,
Summicron-M 28, Kodak Portra 160
© Ulrich Hilger
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